People | 09.05.2022
Alltagsheldinnen
Ein Kind auf die Welt zu bringen – eines unserer größten Wunder. Mutterinstinkte lassen uns für unsere Kinder Berge versetzen. Selbst dann, wenn es unmöglich scheint und unglaublich viel Mut, Stärke und Leid verlangt. Familie bedeutet Liebe, doch nicht immer kommt diese Liebe ohne einen Preis. Wir stellen euch drei Frauen vor, die unfassbare familiäre Schicksalsschläge erlitten haben – und trotzdem da sind, aufstehen und weitermachen. Für ihre Kinder und für all jene, die sich vor ähnlich schmerzhaften Herausforderungen wiederfinden müssen. Vera Juriatti, Barbara Pachl-Eberhart und Martina Rötzer geben uns Kraft, nach vorne zu schauen, und Hoffnung, das Leben trotz allem mit Glück zu füllen.
Familie bei den Sternen
Text: Sarah Kampitsch • Fotos: Rainer Juriatti
Vera Juriatti und ihr Mann haben sieben Kinder – zwei von ihnen führen sie an der Hand. Die fünffache Sternenkindmutter setzt sich seit Mitte der Neunzigerjahre täglich für die Rechte und Bedürfnisse von Sternenkindeltern ein.
Fast jede dritte Frau hat im Laufe ihres Lebens mindestens eine stille Geburt. Dennoch wird das Thema weiterhin tabuisiert; über so was spricht man nicht. Viele betroffene Frauen geben sich auch selbst die Schuld am Schicksal ihrer Kinder, obwohl sie gar nichts dafürkönnen. Dem sozialen Umfeld fehlt der Bezug zum Kind, sie haben es nie kennengelernt. Da fühlt man sich oft allein gelassen, sagt Vera Juriatti, oder trifft auf Unverständnis für den anhaltenden Schmerz. Auch auf der Geburtenstation, wo sie als Krankenpflegerin arbeitet, versucht man dem Thema Tod eher aus dem Weg zu gehen.
In den 1990ern brachte Juriatti fünf Sternenkinder zur Welt. Bei der ersten Fehlgeburt war sie erschüttert, sagt sie, doch man wisse, dass das passieren kann. Die zweite traf tiefer. In der Schwangerschaft mit ihrem Sohn, der gesund zur Welt kam, überwog die Angst vor der Freude. Vier ihrer Sternchen starben vor der 12. Schwangerschaftswoche. „Trotzdem sind es Kinder. Ich bin ab dann eine Mama, wenn ich weiß, dass ich schwanger bin. Dann wird einem diese Freude durch einen Schicksalsschlag von heute auf morgen zerstört.“ Ihr fünftes Sternenkind brachte sie in der 25. Schwangerschaftswoche mit Wehen auf die Welt, wie bei einer normalen Geburt. Mit dem Unterschied, dass ihr Baby nicht schrie.
Seit den Geburten ihrer Sternenkinder kämpft Juriatti für die besonderen Bedürfnisse betroffener Eltern. Letztes Jahr initiierte sie mit Land Steiermark und Stadt Graz die „Sternenkinderbox“. Dort finden sich wichtige Informationen zum Weitermachen, zu Begräbnissen, Selbsthilfegruppen und Psychologinnen. Vor Kurzem wurde die erste Online-Plattform für Sternenkind-Hilfe www.mein-sternenkind.net gelauncht. Mit der Sternenkindfotografie bieten sie und ihr Mann Eltern an, das „erste und letzte Bild ihres Kindes“ zu machen. „Bleibende Erinnerungen sind ganz wichtig. Oft haben wir nur ein Ultraschallbild. So kann ich auch anderen zeigen, schau, das ist mein Kind.“
Wir können nichts dafür, dass unsere Kinder nicht auf die Welt kommen und leben, sagt Vera Juriatti. Sie hat ihre Scham abgebaut. „Ich habe mein Bestmögliches getan, aber es liegt nicht in meiner Hand. Egal ob mein Kind auf die Welt kommt oder nicht, ich bin seine Mama.“ Natürlich prägen solche traurigen Erlebnisse das gemeinsame Leben. „Der Schmerz ist immer da, aber er verändert sich. Ich glaube, mein Mann und ich haben etwas Positives daraus gemacht. Dadurch kann ich tun, was ich jetzt tue, und Menschen helfen.“
Ein Dreh in der Stimmung
Text: Stephanie Gaberle • Fotos: Nina Goldnagl
Nach unfassbar schweren Schicksalsschlägen ist sie mit ihrem Tun zu einem Vorbild für Betroffene geworden. Barbara Pachl-Eberhart spricht mit uns über Trauer, Verarbeitung und das Zurückerlangen von Lebensfreude.
Bei einem Unfall verlor sie ihren Mann und ihre beiden Kinder – ein schier unvorstellbares Maß an Verlust, das sich auf eine Person entlädt. Wie hat Barbara Pachl-Eberhart in dieser Zeit die Energie gefunden, nicht nur ihre eigene Trauer zu verarbeiten, sondern auch anderen zu helfen? „Ich war schon immer so gepolt, dass ich anderen helfe“, sagt die Autorin von „4 minus 3“. „Vielleicht auch, um meinen eigenen Schmerz, meine eigene Ohnmacht nicht spüren zu müssen.“ Nach dem Tod ihrer Familie hat sie erst mal alles so gemacht, wie sie es gewohnt war. „Ich habe ein schönes Begräbnis organisiert, meinen Freunden tröstliche Briefe geschrieben. Ich habe versucht, für meine Kinder wieder glücklich zu werden.“ Dass sie extrem leidet, hat sie erst nach Jahren der Therapie spüren und zulassen können.
Als frühere Klinik-Clownin hat Barbara Pachl-Eberhart gelernt, wie wenig es braucht, um Großes zu verändern – und so tiefen Sinn in dieser Arbeit gefunden. „Der Clown ist Ehrlichkeit pur. Er oder sie arbeitet mit sich selbst als Mensch“, erzählt sie. „Wenn die Eltern eines krebskranken Kindes oder einer Jugendlichen mit Magersucht lächeln oder gar lachen, ist das wunderschön. Ein Dreh in der Stimmung, der noch lange nachwirkt.“
Auf ihrer Homepage bezeichnet sich die Autorin als „Expertin für Handreichungen, Brillen und Vorschusskredite“. „Mit Brillen meine ich Haltungen, die man dem Leben gegenüber einnehmen kann“, so die Erklärung. „Da gibt es viele und ich suche immer wieder neue – vor allem die, die mich Ja sagen lassen.“ Vorschusskredite gibt sie dem Leben, indem sie jeden Tag aufs Neue begrüßt. Ihr Vorschuss gegenüber Menschen ist für sie, ihre Wichtigkeit zu erkennen und dass hinter dem ersten Eindruck oft mehr steckt. „Handreichungen finde ich sehr wichtig, auch gegenüber jenen, die vielleicht öfter eingeladen werden müssen.“
Themen wie Tod und Verlust wird im Alltag wenig bis kaum Raum gegeben. „Ich glaube nicht, dass diese Dinge alltäglicher Bestandteil unseres Lebens sind“, sagt Barbara Pachl-Eberhart. „Im Gegenteil: Solche Ereignisse reißen uns – ganz natürlich – aus dem Alltag heraus. Der ist für viele so gebaut, dass er keine Pausen erlaubt. Ausfallen darf nicht sein – da wollen wir lieber nicht hinschauen, nicht prophylaktisch und nicht, wenn es anderen passiert.“ Für sie liegt der Schlüssel in der Reduktion. Sich schon im Alltag echte Auszeiten zu verschreiben – nicht als Luxus oder Belohnung für Leistung, sondern als Basis für Resilienz und seelische Gesundheit.
Mitte Mai freut sie sich schon auf einen Auszeit-Schreibkurs mit dem Titel „Sonnenseiten, Glücksmomente und Honigtropfen auf Papier“. „Und das andere Projekt, an dem ich arbeiten darf, ist das Heranwachsen meiner kleinen Tochter – das schönste Projekt, das ich mir nur wünschen konnte.“
Nicht „stark sein“ müssen
Text: Stephanie Gaberle • Fotos: Erwin Scheriau
Geht es den Kindern gut, dann geht es uns auch gut – und alles läuft. Viele sehen Gesundheit als selbstverständlich an, aber das ist sie nicht“, sagt Martina Rötzer, Unternehmerin, Chefin eines nachhaltigen Gastronomiebetriebs mit sozialem Engagement und Mama von Raffael und Mirabell.
„Die psychische Belastung ist oft groß, umso schöner ist es, wenn wir eine gesunde Phase haben.“ Mit zwei Kindern, die in unterschiedlichen Schweregraden mit der Muskelerkrankung Spinale Muskelatrophie leben, kann jeder Tag eine akute Veränderung im Alltag bedeuten.
Wie stemmt man so was als Familie? „Wir haben gelernt, unser eigenes System zu managen, so können wir damit umgehen, falls es insbesondere Raffael plötzlich schlechter gehen sollte.“ Der bald 6-Jährige ist ständig auf Unterstützung angewiesen – seine Lebensfreude trübt das nicht, im Gegenteil. Raffaels Optimismus macht Martina Rötzer jeden Tag stolz. „Er ist ein Sonnenschein, so redefreudig, wissbegierig und immer auf der Suche nach neuen Chancen“, erzählt sie lächelnd. Diese Chancen seien unter anderem neue technologische Möglichkeiten wie Exoskelette, moderne Reha und Therapie, bessere Medikamente und auch ein hoffentlich bald stattfindender Wandel im Pflegebereich. „Die Familienentlastung ist eine Hilfe, insgesamt ist die staatliche Unterstützung im Pflegebereich allerdings spärlich und es wird viel eingespart“, stellt Martina Rötzer fest. „Wir sind dankbar für die Unterstützung von der Familie – ohne sie wäre es oft nicht machbar.“ Deshalb bemüht sich die Unternehmerin stets um öffentliche Anstöße, die Angebote in dem Bereich vorantreiben sollen. Auch die Aufklärung zur Krankheit möchte sie mehr zum Thema machen. „Es braucht bessere Anlaufstellen in der Medizin, mehr Information über das erkennende Screening – wie bei Mirabell – und mehr Verständnis und Offenheit aufseiten des ärztlichen Personals.“ Außerdem müsse sich im öffentlichen Umgang mit Menschen mit Behinderung noch einiges verändern, um sicherzugehen, dass sich Raffael beispielsweise am Spielplatz genauso wohlfühlen kann wie Kinder ohne Rollstuhl. „Es geht aber auch um Sachen wie direktes Ansprechen anstatt irritierter Blicke – Kinder machen das oft sehr gut und Raffael beantwortet normalerweise gerne alle Fragen“, sagt Martina Rötzer. Und mit einem Schmunzeln: „Ich finde eh, dass er am besten das Interview selbst hätte geben sollen.“
Was Martina Rötzer Menschen raten kann, die selbst gerade eine schwierige Situation durchleben? „Nicht versuchen, ‚stark‘ zu sein, sondern Hilfe annehmen“, sagt sie deutlich. „Zugeben, wenn man Unterstützung braucht. Das macht das Ganze etwas leichter – auch wenn man das zunächst nicht glauben mag.“