People | 02.09.2021
Die Straße ist ihre liebste Bühne
Am heißesten Tag 46 Grad Celsius, 15 Millionen Menschen in einer Stadt – dass Andrea Tieber und Sigrid Mark ausgerechnet unter diesen Umständen eine Herzensentscheidung trafen, glaubt man kaum, wenn man die beiden in ihrer Oase in St. Martin an der Raab besucht. Der Lärm eines einzigen Fahrzeugs ist nach dem Interview am Tonband zu hören; die roten und gelben Hofmauern umgeben Blüten, Bäume und eine Vielzahl romantischer Plätzchen zum Lesen und Träumen. Und dennoch: Das neue Leben nahm in Buenos Aires seinen Anfang. Dort entschieden die beiden, ihren Berufen Lebewohl zu sagen, um Straßenkünstlerinnen zu werden.
STEIRERIN: Was war zuerst: Ihrer beider Begegnung oder die mit dem Tango Argentino?
(beide lachen)
Andrea Tieber: Wir sind schon seit 30 Jahren ein Paar.
Sigrid Mark: Wir sind vor 19 Jahren aus der Steiermark ins Südburgenland gezogen und haben viel selbst am Haus renoviert. Danach hatten wir Lust und Zeit für ein Hobby. Wir wollten tanzen.
Sigrid: Ein Vorarlberger, der zugezogen war, hat Tango getanzt. Wir waren vier, fünf interessierte Paare; er meinte, einen Kurs kann er nicht machen, aber uns ein paar Sachen zeigen. Wir haben sofort Feuer gefangen.
Was fasziniert Sie am Tango?
Andrea: Einerseits dieses besondere Körpergefühl, das man durch den Tango entwickelt, und andererseits die Verbindung, wenn man im Paar tanzt. Es gibt keine fixen Abläufe, es ist ein Improvisationstanz. Wenn man beginnt, weiß man nicht, wie es sich entwickelt. Umso spannender sind der Dialog und die Impulse, die man aufnimmt und umsetzt.
Sigrid: Man lässt sich ganz in den Tanz hineinfallen, da hat nichts anderes mehr Platz. Ich bin sonst ein Kopfmensch, aber beim Tango bin ich nur im Augenblick, im Dialog miteinander, mit der Musik, mit dem eigenen Körper. Wir haben geahnt, dass enorm viel möglich ist, aber es war zu Beginn durchaus ein steiniger Weg. Gerade weil es den Grundschritt nicht gibt, lernt man Tango nicht auf die Schnelle. Wir haben jahrelang unsere Urlaube Workshops, Kursen und Festivals gewidmet – und bald hier im Wirtschaftsgebäude einen Tanzsaal eingerichtet. So konnten wir regelmäßig üben und uns weiterentwickeln.
… während Sie vorerst parallel in der Volksschule bzw. Religion unterrichteten.
Sigrid: Tanzen war unser Hobby – bis uns beim Tango-Festival in Berlin der Roman „Die Straßensängerin“ in die Hände fiel. Er handelt von einer Frau, die 50-jährig ihren Job an den Nagel hängt und eine Gesangsausbildung macht, um Straßensängerin zu werden.
Andrea: Du hast gesagt: „Schön blöd, wir können nicht singen.“ Und ich hab’ geantwortet: „Aber wir können tanzen.“
Sigrid: Wir wussten, dass es das gibt: Der Tango kommt von der Straße, er ist in der unteren sozialen Schicht in Buenos Aires entstanden.
Da haben Sie tatsächlich einen neuen Weg beschlossen …
Sigrid: Ja, wir kündigten danach, um Straßentänzerinnen zu werden.
Andrea: Das war ein Prozess, natürlich auch mit Zweifeln. Aber die Situation war reif für eine Veränderung. Wir waren nicht mehr ganz glücklich in unseren Jobs und wollten auch nie bis zur Pension das Gleiche machen. Ich war 49, Sigrid 46 – uns wurde klar: Wenn wir das nicht jetzt machen, machen wir’s nicht mehr. Natürlich haben uns manche für verrückt erklärt.
Wie ging es los?
Sigrid: Wir wussten, dass es noch mehr braucht, wenn wir auftreten wollen. Wir sind für drei Monate nach Buenos Aires gezogen: für eine intensive Ausbildung und um uns einen Puffer für die endgültige Entscheidung zu geben.
Wie war Buenos Aires?
Sigrid: Heiß, voll und laut – und der Tango-Himmel auf Erden! Wir waren an einer guten Tanzschule, nahmen zusätzlich Privatunterricht. Man taucht dort völlig ein.
Andrea: Selbst alle Taxler hören Tango-Musik.
Sigrid: Zu Silvester haben wir dort entschieden: Wir versuchen es. Wenige Monate später haben wir unser Haus meinen Eltern übergeben, sind gegenüber in den Tanzsaal gezogen. Wir wollten die meiste Zeit von einer europäischen Stadt in die nächste unterwegs sein. Wir sind losgezogen und im Mai 2014 in Köln aufgetreten. Dort waren zwei Dinge sofort klar. Das eine war: Das ist unseres! Der unmittelbare Kontakt mit den Menschen und nicht von einer Bühne herunter faszinierte uns sofort.
Andrea: Da waren viele Überraschungsmomente auf beiden Seiten: für uns und das Publikum.
Sigrid: Zwei Wochen später folgte das böse Erwachen: Wir durften nicht mehr auftreten. Wir haben nach unserem Gefühl alle gesetzlichen Bestimmungen bei der Recherche im Vorfeld gefunden, aber nicht auf das Landesemissionsgesetz von Nordrhein-Westfalen geschaut: Musik im öffentlichen Raum ist Lärm.
Andrea: Man hat uns gesagt, wir können schon tanzen, aber ohne Musik.
Sigrid: Das war schrecklich. Da sind wir draufgekommen, dass die Bestimmungen – mit Ausnahme von Berlin – ganz rigide sind; das war in den 90ern noch ganz anders. Damit war klar: Wir kommen auf keine Arbeitszeit. Ein Beispiel: In Wien bekommt man die Plätze für je zwei Stunden zugeteilt. Wir haben in einem ganzen Monat fünf gute Plätze gehabt, sonst nur in den Außenbezirken; wenn genau in deinen zwei Stunden ein Gewitter ist, hast du Pech.
Andrea: Wir haben es mehrere Monate da und dort ausprobiert: in Berlin, Wien, am Gardasee, an der toskanischen Küste. Wenn alles passt und man auf eine gute Zeit käme, könnte man – wenn auch bescheiden – davon leben.
Sie haben nicht aufgegeben. Warum?
Sigrid: Wir erleben so berührende Momente und Begegnungen, werden angesprochen und sogar von der Straße weg privat eingeladen, selbst Kinder bleiben fasziniert stehen.
Andrea: … und legen eine Blume in den Hut.
Sigrid: … oder ein Zuckerl (beide lachen). Wir tanzen ja nicht nur. Wir tanzen Geschichten, schlüpfen in Kostüme und Rollen, spielen mit den Geschlechterrollen. Bei einer Geschichte sind wir beide im Herrenoutfit. Im Juni fahren wir nach Langem wieder für Straßenkunst nach Berlin. Wir haben während der Pandemie ein Stück erarbeitet, das auch die Pandemie aufgreift: Es heißt „Mascarada“. Wir tanzen mit venezianischen Masken, aber es geht durchaus um die Aufarbeitung der Maskenzeit, um die Sehnsucht nach Nähe und Lebensfreude. Nach der Premiere in Berlin werden wir damit auch in Graz und Wien sein. Ganz kurzfristig, circa einen Tag vorher, geben wir die Orte, wo wir auftreten, auf unsere Webseite.
Die Liebe zur Straßenkunst blieb also, aber um die Existenz zu sichern, bedurfte es einer Planänderung: Sie unterrichten mittlerweile auch erfolgreich; Ihre Sommer-Workshops im Künstlerdorf Neumarkt an der Raab sind immer schon Wochen zuvor ausgebucht.
Sigrid: Wir haben gemerkt, dass uns das auch Spaß macht. Wir haben mit Privatstunden angefangen und dann den Solotango entwickelt; das ist ein ganz eigenes Konzept. Einerseits geht das ohne Partner*in und andererseits versuchen wir auch Leute, die den Paartanz im Auge haben, dafür zu öffnen, mit Solo zu starten. Wir beginnen unser tägliches Tanztraining auch jeweils alleine.
Andrea: Es ist wunderschön zu sehen, wie viel in einem Workshop passiert. Die Teilnehmer*innen kommen bei sich an, kriegen schon durch die Haltung, die besondere Art zu gehen, eine ganz andere Körperwahrnehmung.
Was ist der Backgrund des Seminars „Führen und Folgen auf Augenhöhe“?
Sigrid: Wir kennen das im Alltag: Mal müssen wir die Führung übernehmen, mal Folgende sein. Ein Beispiel: Eine Lehrerin hat ihre Klasse, aber über sich eine Direktorin. Führungskräfte-Trainings sind oft zu einseitig; der Blick geht von oben nach unten.
Andrea: Das Augenmerk wird fast ausschließlich auf das Führen gelegt, nicht aber aufs Folgen. Im Tango ist das aber gleichwertig.
Sigrid: Es braucht im Tango Argentino klare Rollen, aber Führen und Folgen sind beide aktive Tätigkeiten. Wenn man das Folgen ebenso als eine aktive, kreative Tätigkeit erlebt, eröffnet das enorme Möglichkeiten und Welten. Wir machen das bei unserem Seminar über den Tanz, also zunächst über den Körper erfahrbar; wir lassen die Teilnehmer*innen beide Rollen ausprobieren und reflektieren dann gemeinsam.
14 Jahre Tango Argentino. Wie haben Sie sich verändert – und Ihre Beziehung?
Andrea: Ich habe vorher als Lehrerin lange mit Kindern gearbeitet und mir angewöhnt, um näher bei ihnen zu sein, mich nach unten zu ihnen zu neigen. Diese schlechte Körperhaltung machte Probleme und Schmerzen, das ist heute weg. Auch mein Lebensgefühl hat sich verändert. Ich fühle mich ganz, das ist total schön. In der Beziehung haben wir durchs Tango-Tanzen streiten gelernt (beide lachen) – aber ebenso die Dinge so auszustreiten, dass es nicht die Beziehung belastet.
Sigrid: Mir hat Tango ein großes Geschenk gemacht: Ich habe gelernt, wie schön es ist, im Augenblick zu sein. Beim Tango gibt es nichts anderes als mich, die Tanzpartnerin, die Musik und vielleicht noch den Raum um uns; beim Tango denke ich an nichts anderes. Ich hatte immer schon eine schnellere innere Uhr und bin früher auch noch eine Spur drübergegangen. Das Nichtstun, die Pause gehört beim Tango zum Tanz. Der Tango hat mir auch ein Stück Entschleunigung gebracht.
Kurzbiografie:
AdanzaS
Andrea Tieber wurde in Graz geboren und träumte schon als Kind vom Tanzen. Sie verfolgte aber zunächst einen anderen Herzenswunsch und wurde Volksschulpädagogin. Sie unterrichtete 24 Jahre lang und war bei einer Kinder- und Jugendorganisation tätig.
Sigrid Mark wurde ebenfalls in Graz geboren und schlüpfte als Kind gerne in Rollen. Sie verbrachte später viel Freizeit in einer religiösen Jugendgruppe und studierte schließlich zunächst Religionspädagogik und dann Theologie. Zuletzt unterrichtete sie Jugendliche bzw. junge Erwachsene.
AdanzaS – so ihr gemeinsamer Künstlername als Tanzpaar – wurde geboren, als die beiden beschlossen, ihre Leidenschaft zum Tango Argentino zum Beruf zu machen. Seit knapp 20 Jahren leben Andrea Tieber und Sigrid Mark in St. Martin an der Raab. 2013 kündigten sie ihre Jobs und machten eine Intensivausbildung in Buenos Aires, vor allem bei Aurora Lubiz und Augusto Balizano. Seit 2014 machen sie Tangoperformances im öffentlichen Raum, seit 2015 unterrichten sie außerdem. Sie bieten Privatstunden und Kurse; sie empfehlen, mit dem selbst entwickelten Workshop „Solotango“ einzusteigen. 2018 hoben sie ein weiteres Konzept aus der Taufe: das Seminar „Führen und Folgen auf Augenhöhe“.
Termine und Infos zu Auftritten, Workshops und Seminaren: www.adanzas.at
Fotos Thomas Luef – www.luef-light.at