People | 30.03.2021
Diskriminierung macht auch stark

Geflüchtete werden in den Medien sehr oft als Opfer dargestellt, erzählt Khatera Sadr, als sie bei den STEIRERIN AWARDS 2020 ihre Auszeichnung als „Kämpferin“ entgegennimmt. Dabei trifft es die Bezeichnung Kämpferin viel besser: Es ist ein Kampf, ein langer, steiniger, unvorstellbar harter und auch traumatisierender Weg. Wer ihn beschreitet, ist richtig stark.
Neustart. Es sei unbeschreiblich hart, sein Land, seine Familie zurückzulassen und aufzubrechen in das vollkommen Unbekannte. Nicht zu wissen, wohin die Reise geht, wie sie verläuft, ob man überhaupt ankommt. Fuß zu fassen in einem neuen Land, dessen Kultur und Sprache man nicht kennt, dessen gesellschaftliches und strukturelles System man nicht versteht. Kopftuch zu tragen in einem Land, wo der Islam geprägt ist von Vorurteilen und Integration mit vielen zwischenmenschlichen Hürden einhergeht. „Nichts ist mir mehr im Leben im Weg gestanden als mein Kopftuch“, erzählt Khatera. Denn mit Kopftuch könne man in Österreich maximal als Putzfrau arbeiten, so sagte man ihr immer, und: „Nimm es weg, da drunter ist sicher eine Bombe.“ Der Diskriminierung trotzend gab Khatera niemals auf und entwickelte sich auf ihre mutige Art stetig weiter. Sie hat zahlreiche Ausbildungen in Kinderbetreuung und Sozialarbeit und EDV-Kurse gemacht und setzt sich bis heute unermüdlich für die Integration von Migrantinnen und Musliminnen ein, unter anderem mit dem Verein SOMM, den sie mitgegründet hat. Sie ist als Dolmetscherin tätig, hält Kurse am BFI und hat für ISOP und OMEGA gearbeitet. Derzeit ist sie bei Alpha Nova. Durch ihre eigenen schwierigen Erfahrungen kann sie anderen Frauen auf ihrem Weg zur Seite stehen und sie bei der Integration unterstützen. Denn das beste von beiden Welten zu haben – die eigene Kultur nicht zu vergessen, doch an die österreichische optimal anzudocken –, das war immer das Ziel ihrer Familie.
Die Flucht. Schon als Kind flüchtet Khatera Sadr mit ihrer Familie in den Iran, weil ihre Eltern Intellektuelle sind. Kurze Zeit später verschwindet ihr Großvater spurlos, wird möglicherweise in einem Massengrab wiedergefunden. Khatera wächst im Iran auf, studiert später Literatur. Sie heiratet einen Arzt und kehrt mit ihm nach Afghanistan zurück, als sich die Lage dort entspannt. Nur kurze Zeit später werden die beiden vom Taliban verfolgt und müssen eine große Entscheidung treffen. Schließlich verlassen sie mit dem 14 Monate alten Sohn über einen Fluchthelfer das Land. Die Nächte verbringen sie mit 25 Menschen auf 10 m2, eine Woche lang müssen sie sich am Boden robbend fortbewegen, um nicht von der Polizei entdeckt zu werden. Noch heute lösen Sirenen und Polizeiautos Trauma in Khatera aus. Einmal wird ihr der weinende Sohn von einem Fluchthelfer weggenommen – sie weiß lange nicht, ob sie ihn je wiedersieht. „Es sind Momente gekommen, in denen ich keine Hoffnung mehr für das Leben hatte“, erinnert sie sich.
Niemand verlässt seine Heimat grundlos.
Das ist eine sehr schwierige Entscheidung.
Ankommen. Erst 2004 erreicht die junge Familie Asylantenstatus in Graz. Khateras Mann ist Arzt, trotzdem gestaltet sich die Arbeitssuche für ihn sehr schwer. „Obwohl viele MigrantInnen hoch gebildet und begabt sind, werden ihnen bei der Arbeitssuche oft Steine in den Weg gelegt.“ Ihr Mann und sie beschließen, die Rollen zu tauschen und Khatera schließt unzählige Ausbildungen ab. Bildung macht stark, sagt sie, und Diskriminierung auch – wenngleich es hart ist. „Da bin ich stolz auf mich, dass ich nie aufgegeben habe. Obwohl ich mich teilweise psychisch sehr belastet gefühlt habe.“ Mit ihren vielen sozialen Tätigkeiten unterstützt sie heute Migrantinnen und Geflüchtete dabei, selbst Fuß zu fassen. Weil sie weiß, was es heißt, aus seinem Heimatland zu fliehen und sich in einer fremden Kultur ohne Basis eine neue Existenz aufzubauen, hat sie viel Verständnis für ihre Lebenswege.
Heimat. Heute geht es Khatera wunderbar. Österreich ist für sie und ihre Familie zur Heimat geworden. Ihr Sohn studiert mittlerweile im zweiten Jahr Medizin – ein Erfolg, auf den sie nach all den Jahren der Hürden und Herausforderungen sehr stolz ist. Sie möchte anderen Frauen überall auf der Welt viel Kraft geben. „Ich wünsche mir, dass alle Frauen sich gegenseitig motivieren, auf ihren Beinen zu stehen und stark teilzuhaben an der Gesellschaft.“