Lifestyle | 05.01.2023
Reflektierter Jahreswechsel
Mal ganz ehrlich: Die meisten Menschen lesen gerne ihr Jahreshoroskop – aber es gibt auch noch andere Möglichkeiten zur Vorbereitung auf das kommende Jahr. Zum Beispiel kann es sinnvoll sein, nicht immer nur nach vorne zu schauen, sondern auch einmal zurück. Denn eines steht fest: Wir leben in einer sehr schnelllebigen Zeit. Je älter man wird, desto schneller verfliegen die Tage, Wochen und Monate, und ehe man es sich versieht, ist schon wieder ein Jahr vorüber. Mag. Marlene Ortmann, Klinische Psychologin aus Graz, rät daher zu einer Reflexion am Jahresende: „Viele Menschen sind in ihrem Alltag gefangen. Kinder, Hausarbeit, Arbeit, Studium, Beziehung, Freunde – das kann sich wie ein richtiges Hamsterrad anfühlen. Man fragt sich in den seltensten Momenten: Ist das, was ich täglich mache, sinnbringend? Macht es mich glücklich, bringt es mich dorthin, wo ich mich langfristig sehe?“
Gedanklich Revue passieren zu lassen, was in der vergangenen Zeit passiert ist, kann täglich oder wöchentlich gemacht werden, besonders bietet sich dafür aber natürlich das Jahresende an. „Zu diesem Zeitpunkt werden viele nachdenklicher und sind empfänglicher für solche Aktivitäten“, so Ortmann. Wichtig ist ihr, vorauszuschicken, dass sich dieser Prozess primär an eine gesunde Klientel richtet. „Wenn etwa eine schwere depressive Erkrankung vorliegt, Antriebslosigkeit, Hoffnungslosigkeit oder Selbstzweifel, können sich diese Probleme ansonsten noch verschlimmern.“ Zur Unterstützung bei der Reflexion gibt sie ihren Klienten einen kurzen Leitfaden mit. Essenziell ist es, offen und ehrlich mit sich selbst zu sein. Die Fragen schriftlich zu beantworten hilft dabei, wirklich in sich zu gehen und sich mit sich selbst auseinanderzusetzen.

Gestartet wird mit einem eher unangenehmen Thema: Vorwürfen gegenüber anderen und vor allem gegenüber sich selbst. „Jeder macht Fehler. Man sagt Dinge, die einem später leidtun, oder handelt übereilt. Wenn man sich selbst nicht verzeihen kann, wirkt sich das unbewusst auf die Selbstakzeptanz aus und darauf, wie man mit anderen agiert. Man stellt sich vielleicht die Frage: Hab ich es verdient, glücklich zu sein?“ Als Erkenntnisgewinn soll am Ende dieser Übung stehen, dass man Fehler machen darf, sich selbst verzeiht und daraus neue Erkenntnisse zieht.

Als Nächstes geht es um einen persönlichen Rückblick auf Herausforderungen und Glücksmomente. Man schaut auf die letzten 12 Monate zurück und erkennt an, was man geschafft hat. Hier darf man ruhig einmal stolz auf sich selbst sein, was man erlebt und gemeistert hat. Es lohnt sich, sich zu fragen, was die schönsten Momente waren und was man gelernt hat.

Im dritten Schritt geht es um Dankbarkeit. Gerade am Ende des Jahres ist es eine schöne Geste, einer anderen Person zu sagen, wofür man ihr dankbar ist – ob persönlich, schriftlich oder per Sprachnachricht.

Im vierten Punkt stehen zwei sehr wichtige Punkte für eine ausgeglichene Psyche im Fokus: Achtsamkeit und Selbstliebe. Das bedeutet, sich auch bei sich selbst zu bedanken und sich etwas Gutes zu tun, ob das nun eine Massage, ein Thermentag oder eine kleine Auszeit in der Badewanne bedeutet.

Zum Abschluss der Reflexion wendet sich der Blick nach vorne, auf das kommende Jahr. Statt klassischer Neujahrsvorsätze wie „Mehr Sport“ soll jedoch formuliert werden, welche Veränderungen eintreten sollen. Hier unterteilt man in verschiedene Lebensbereiche: Familie/Freunde/Liebesleben, Beruf/Finanzen, Gesundheit und bestehende oder neue Rituale.
Man stellt sich ganz konkret die Frage, wovon man im kommenden Jahr mehr und wovon weniger haben möchte. Bei Zielen für das neue Jahr sollte vor allem darauf geachtet werden, dass sie klar definiert und messbar sind. „Ohne Ziel irrt man herum. Es sollte zumindest langfristig feststehen, wo man hinmöchte und wie die Schritte dorthin ausgerichtet sind, sonst ist der Weg sehr unstrukturiert. Es läuft eigentlich auf die Frage hinaus, was man vom Leben möchte – und was nicht.“ Rituale sind auf die Zielsetzung ausgerichtet. „Es ist ein Trugschluss, zu glauben, dass es immer ein großer Schritt sein muss, der uns weiterbringt. Erfolg – ob das nun ein Studienabschluss ist oder einfach psychische Stabilität – ist das, was man jeden Tag im Kleinen tut. Es sind die kleinen Schritte im Alltag, die einen schlussendlich weiterbringen“, sagt Ortmann.
Weg vom Leistungsgedanken
Klingt das nicht alles ein bisschen nach Selbstoptimierungswahn? „Der Vorwurf ist berechtigt und die Gefahr besteht. Ziel bei der Jahresreflexion ist es aber nicht, noch mehr Leistungsdruck zu erzeugen, besser dazustehen oder mehr Anerkennung zu bekommen. Es geht nicht um Performance, sondern darum, wie man sein Leben führen möchte, damit es einem gut geht, damit man sich gesund und glücklich fühlt.“
Geduld mitbringen
Nachdem die Reflexion abgeschlossen ist, werden die verschriftlichten Gedanken in ein Kuvert gesteckt und erst in einem Jahr wieder hervorgeholt. Wie geht man jedoch damit um, wenn die gesetzten Ziele nicht erreicht wurden? „Die meisten Menschen verurteilen sich, wenn etwas nicht klappt. Aber eine Reflexion ist kein Wettkampf. Es geht nicht darum, dass man am Ende des Jahres alle Punkte auf der Liste abgehakt hat, sondern dass man sich selbst als Ich nicht aus den Augen verliert. Wenn etwas nicht funktioniert hat, sollte man daher fragen, warum: Wie habe ich meinen Alltag gestaltet, welche Gedanken und Verhaltensmuster waren immer wieder da? Wenn man die Ursache gefunden hat, kann man schauen, dass man für das nächste Jahr etwas daran verändert.“ Wir finden, dass eine Jahresreflexion eine gute Möglichkeit ist, um in das neue Jahr zu starten. Man sollte dabei aber – wie generell im Leben – nicht zu streng zu sich selbst sein.
© createve
ZUR PERSON
Mag. Marlene Ortmann ist Klinische Psychologin. Sie ist im Institut für Psychosomatik und Verhaltenstherapie in Graz tätig. Im Moment macht sie ihr Fachspezifikum im Bereich Verhaltenstherapie.