Lifestyle | 18.08.2020
Kleine Patienten, große Schmerzen
Zehn Prozent aller Schulkinder leiden im Durchschnitt an Migräne. In Österreich sind das mehr als 100.000 Kinder. Oft geht die Krankheit mit Bauchschmerzen und Übelkeit einher. Und immer ist es nicht nur ein körperliches Leiden, sondern eine Beeinträchtigung in vielen Lebensbereichen, erzählt Nicola Filzmoser: „Migräne beeinflusst bei Kindern vor allem die Schulzeit und die akademische Leistung. Sie verpassen bis zu 50 Prozent ihrer Schultage. Oft stagniert die Entwicklung dieser Kinder und das alles hat am Ende Konsequenzen für die Karriere. Auch die sozialen Kontakte leiden stark darunter und die Chance, dass die Kinder Depressionen oder Ängste entwickeln, ist größer. Die Freunde verstehen das oft nicht, denn Migräne sieht man nicht. Wir haben einen extremen Fall kennengelernt, ein 13-jähriges Mädchen mit chronischer täglicher Migräne. Sie sitzt mittlerweile im Rollstuhl. Ihre Nerven sind ab der Hüfte lahmgelegt, weil das Gehirn mit dem permanenten Schmerz nicht mehr fertig wird.“ Filzmoser spricht auch aus Erfahrung – sie selbst hatte ab ihrem sechsten Lebensjahr mit Migräne zu kämpfen. Sie studierte Kommunikationswissenschaft an der FH Wien, sammelte erste Start-up-Erfahrungen in Linz und ging mit ihrem heutigen Geschäftspartner Cornelius Palm nach London, um an der Universität Cam-bridge das Masterstudium Entrepreneurship zu absolvieren. Dort gründeten die beiden 2019 ihr Unternehmen Happyr Health und gewannen damit einen der renommiertesten studentischen Start-up-Wettbewerbe der Welt, den Cambridge University Entrepreneurs.
Individuelle Behandlung. Filzmoser und Palm entwickeln eine spezielle Therapie für junge Migränepatienten, indem sie Spielmechanismen mit wissenschaftlicher Forschung kombinieren. Mit an Bord ist auch Filzmosers Schwester Hannah, die an der Grazer FH Joanneum Informationsdesign studiert und das Corporate Design von Happyr Health entwickelte. Ihre Erfahrungen mit der Start-up-Arbeit zwischen Graz und Cambridge verpackt sie aktuell in ihre Bachelorarbeit. Dass es für gesunde Kinder schwierig ist, Migräne zu verstehen, kann sie rückblickend auf die Probleme ihrer Schwester nur bestätigen: „Ich wusste nicht, wie ich damit umgehen soll. Man will helfen, kann aber nichts tun. Manchmal war ich auch ein bisschen verärgert, wenn wir wieder irgendwo nicht hinfahren konnten, weil Nicola Kopfschmerzen hatte.“ Und Nicola erzählt: „Für mich war nicht nur der Schmerz das Problem, sondern auch, dass man so viel verpasst. Vor allem wenn man sehr aufgeregt ist, löst das eine Migräneattacke aus. Da braucht es nicht nur Medikamente, sondern auch psychologische Betreuung.“
An diesem Punkt setzen die jungen Gründer nun mit ihrer App Happyr Health an, die sie derzeit finanziert durch eine Crowdfunding-Kampagne und mit Unterstützung des aus-tralischen Migräneexperten Paul R. Martin entwickeln. „Die App ist eine Form des Migräne-Tagebuchs“, erklärt Palm. „Die Kinder können in einer sicheren und geschützten Umgebung mit einem Augmented-Reality-Avatar chatten und sprechen. Anhand dieser Gespräche und eines Eltern-Dashboards erkennt die App individuelle Migräne-Auslöser.“ So lässt sich herausfinden, welche Gefühle die physische Befindlichkeit der Kinder beeinflussen, ob etwa Stress oder Angst eine Migräneattacke hervorrufen. Nach diversen Studien zur klinischen Effektivität soll die App Happyr Health Anfang 2021 für die breite Masse verfügbar sein. „Auf der Grundlage dieses Migräne-Tagebuchs können wir individuelle psychologische Behandlungen innerhalb der App vorschlagen, kognitive Verhaltenstherapie in Form von mobilen Spielen“, so Palm. Sind erst einmal ausreichend Daten vorhanden, soll die App auch praktische Unterstützung im Alltag bieten, indem sie etwa Strategien vorschlägt, die Eltern nutzen können, wenn ein Kind immer mit Kopfschmerzen von der Schule nach Hause kommt. „Das können zum Beispiel Atemübungen und Entspannungstechniken sein“, erklärt Filzmoser. So kann die App Happyr Health in Zukunft Kindern mit Migräne zu mehr Lebensqualität verhelfen.