Raus aus den Schuhen

Ein Plädoyer fürs Barfußgehen. Lucia Dorn ist Ärztin und Barfuß-Expertin. Sie sagt, wir sollen öfter im Wald mit nackten Füßen spazieren. Weil uns das – im wahrsten Sinne – erdet. Eine Reportage über die Power unserer Füße und die Benefits des Barfußgehens.

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Grashalme, die zwischen den Zehen kitzeln. Moos, das sich so weich anfühlt auf der Fußsohle. Lauwarmer Sand, in dem die Füße beim Abend-Spaziergang am Meer versinken, während die Wellen sanft die Knöchel umspielen. Barfußlaufen ist ein Lebensgefühl. Es erinnert an Freiheit und Leichtigkeit. Gedanken an unbeschwerte Momente unserer Kindheit kommen hoch, wenn wir ohne Schuhe durch die Natur laufen. Vor allem aber tut das Barfußgehen nicht nur dem Geist gut, sondern auch unserem Körper. Medizinerin Lucia Dorn erklärt: „Würden die Menschen öfter auf das Tragen von Schuhen verzichten, hätte ich definitiv weniger Patienten. Durch das Schuhwerk, vor allem das falsche, verkümmert die tiefe Rückenmuskulatur, die wiederum unsere Wirbelsäule stabilisiert.“ Die Folge: Es passieren häufiger Stürze und Verletzungen. Mehr noch: „Bereits Teenager mit 14, 15 Jahren kommen schon mit Rückenschmerzen aufgrund von Fehlhaltungen in meine Praxis.“ Das alles ließe sich vermeiden, würden wir das Barfußgehen in unseren Alltag wieder mehr integrieren. Für die Vorarlberger Ärztin, die in Graz promoviert hat, steht fest: Wir drängen die Jüngsten in die falsche Richtung. „Beobachten Sie Kinder. Wir ziehen ihnen Socken und Schuhe an, sie ziehen sie sich sofort wieder aus“, so Dorn. „Das führt dazu, dass sogar schon die ganz Kleinen es ekelig finden, barfuß zu laufen – eine Entwicklung, die uns allen zu denken geben sollte.“ 

Barfuß-Schuhe als Business-Erfolg

Auch Anna Yona, Gründerin der Minimalschuh-Marke Wildling Shoes, hat sich dem Barfußgehen verschrieben. Sie und ihr Mann, ein Sporttherapeut, lebten mit ihren drei Kindern lange Zeit in Israel. „Sie sind dort quasi barfuß aufgewachsen. Im Vergleich zu anderen Kids in ihrem Alter hatten sie immer weitaus mehr Sicherheit und Vertrauen in ihre körperlichen Fähigkeiten.“ 2013 zog die Familie nach Deutschland: „Allein wetterbedingt war es dann nicht mehr möglich, ständig unten ohne herumzulaufen.“ Ein ordentliches Schuhwerk musste also her. Einziges Problem: „Die meisten Schuhe sind so konzipiert, dass sie extra stabil und fest sind, um uns zu stützen und zu stärken. Dabei ist das absoluter Blödsinn aus sportmedizinischer Sicht.“ Daher entwarfen Anna und ihr Mann selbst einen Schuh. Die erste Kollektion finanzierte das Paar 2015 mittels einer Crowdfunding-Kampagne. Heute managen sie ein Unternehmen mit 210 Mitarbeitern und verkaufen pro Jahr mehr als eine halbe Million Barfuß-Schuhe. Der Beweis: Die Super-Sohlen sind längst nicht mehr nur was für die aus der „Öko-Szene“.

Man spürt die Welt ­intensiver

Dorn ist überzeugt: „Die Barfuß-Schuhe sind eine super Alternative, wenn man nicht mit nackten Füßen gehen kann.“ Wenn’s aber geht, am besten immer unten ohne. Die Ärztin und ihre Familie gehen sogar barfuß wandern. Auch im Winter verzichtet sie regelmäßig auf Schuhe. „Man muss ja keine drei Stunden barfuß laufen. Wichtig ist nur, dass man nicht friert und in Bewegung bleibt. Dann härtet es sogar ab und macht unser Immunsystem resistenter.“ Auch die Bedenken, dass man vom vielen Barfußlaufen Hornhaut züchtet, kann sie aus eigener Erfahrung widerlegen: „Anfangs wird sie mehr, wenn man aber dranbleibt, geht sie komplett weg.“ Fest steht für sie jedenfalls: „Wir haben es noch nie mal besser gemacht als die Natur. Wir behandeln unseren Fuß wie einen Huf, aber er ist ein Sinnesorgan.“ Wer viel barfuß läuft, spürt die Welt intensiver. Und nimmt das, was um einen herum passiert, bewusster wahr. „Man gibt acht darauf, wohin man steigt, und denkt nicht an gestern oder morgen.“ Mehr noch: „Negative Elektronen werden über die Sohlen vom Boden aufgenommen. Diese bewirken, dass unser Körper leichter und besser regeneriert. Viele Spitzensportler schwören darauf“, weiß die Expertin. Daher lautet ihr Appell: „Raus aus den Schuhen! Ich verstehe zum Beispiel nicht, warum im Turnunterricht noch immer verlangt wird, Schuhe zu tragen. Die Kinder sollen barfuß oder in Socken turnen. Wir sparen den Eltern das Geld und der Umwelt die Plastikschuhe.“

Fußreflexzonenmassage in der Natur

Eine Möglichkeit, seinen Füßen eine Schuh-Auszeit zu gönnen, gibt’s in speziellen Barfuß-Parks und auf Barfuß-Wanderwegen. Im steirischen Bad Mitterndorf etwa findet man 17 Stationen mit verschiedenen Untergründen wie Mulch und kleinen Steinen. Im oststeirischen Wenigzell sind’s sogar 30 unterschiedliche Abschnitte. An einem Sonntag sind da schon mal bis zu 300 Leute unterwegs. Auf der Riesneralm wiederum findet man einen Barfuß-Wanderweg zum Gipfel hinauf. Auf alle Fälle empfiehlt Dorn, wenn möglich, täglich eine halbe Stunde Barfußlaufen im Freien. „Wenn man sich außerdem immer wieder bewusst auf ein Bein stellt, hilft das, Füße und Rückenmuskulatur zu stärken.“

Fünf Fakten über unsere Füße
  • In unserem Leben tragen uns unsere Füße durch­schnittlich drei Mal um die Erde. Das entspricht 130.000 Kilometern oder 200 Millionen Schritten.
  • Unsere Füße bestehen aus 27 Gelenken, 26 Knochen, 32 Muskeln und Sehnen, 107 Bändern und 1.700 Nervenenden. Ein Viertel der Knochen des gesamten Körpers befindet sich in unseren Füßen.
  • Während eines ganzen Tages halten unsere Füße einem Druck und Gewicht von durchschnittlich 2.520 Tonnen stand. Die Achillessehne allein kann ein Gewicht von bis zu einer Tonne aushalten.
  • Etwa zwei Drittel aller Erwachsenen leiden an Fehlstellungen aufgrund des falschen Schuhwerks.
  • 500 Schweißdrüsen. Bei Schuhgröße 38 sind das umgerechnet 90.000 Schweißdrüsen. 

© Unsplash/Noah Buscher, Unsplash/freestock, Cherie Birkner, beigestellt

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